A:
Zur persönlichen Authentifizierung werden in Browsern Antworten auf Fragen gefordert, die nur kennen kann, wer sie selbst festgelegt hat, weil die Festlegung der Antworten selektiv erfolgt. Jede Eingabe ist real und hat Konsequenzen; fiktive Antworten können persönlicher sein als generische Wahrheiten und die Wirksamkeit einer Antwort hängt nicht davon ab, ob sie bezogen auf die Frage korrekt ist. Milliardenfach lassen Sicherheitsfragen Menschen sich selbst adressieren und schicken sie in ihre Erinnerungen. Und doch sind Sicherheitsfragen nicht mehr als technische Versuche, durch Adressierung von Handlungen Identität und Verantwortung in verschiedenen Situationen miteinander zu vermitteln. So haben weder die konkreten Bedeutungen dieser Erinnerungen noch die die emotionale Involviertheit der Befragten durch das Erinnern für die Funktion von Sicherheitsfragen eine Relevanz.
B:
Träume strukturieren unsere Vorstellungen und prägen das Wachleben. Falsche Behauptungen schlagen zu richtigen um, Prophezeiungen erfüllen sich selbst. Salvador Dalí entwickelte seine paranoisch-kritische Methode in der Überzeugung, mithilfe dieser unbewusste psychische Zustände systematisch zugänglich und ausnutzbar machen zu können. Sie beruht auf der Einsicht, dass die menschliche Psyche nicht allein rationales Instrument ist, sondern weitere Ressourcen der Erzeugung von Wissen bereitstellt. Der psychische Zustand eines Subjekts wird absichtlich manipuliert mit dem Ziel, neue Wahrheiten zutage zu bringen, was den kritischen Charakter der Methode ausmacht. Rem Koolhaas schreibt über die PKM, sie sei eine Technik, ‚falsche‘ Fakten unter den vermeintlich ‚echten‘ zu platzieren. Diese würden als Spion:innen fungieren, dazu prädestiniert, gerade aus ihrer Unscheinbarkeit (‚realistisch‘) heraus die Wirklichkeit zu verdrehen, zu manipulieren oder gar zu zerstören. In irreführender Absicht hergestellte Beweise also, die das therapeutische Prinzip umkehren: Nicht die Kranken vollziehen heilende Rituale, sondern die Gesunden werden zu Tourist:innen im Reich der Paranoia[1] Hochstapler:innen zittern vor ihrer Entlarvung, kommen aber oft durch und stehen dann – mit allen anderen Beteiligten – vor veränderten Tatsachen.
Wir wissen nicht erst seit Mark Fishers Diagnose eines selbst die persönliche Vorstellungskraft aushöhlenden „kapitalistischen Realismus“[2], dass die Alternativlosigkeit von Zuständen für Menschen deprimierend ist. „Man braucht immer ein wenig mehr Platz, als man im Moment braucht“[3], sieht Maren Lehmann mit Blick auf die Relevanz von Formen sozialer Distanz, sonst wäre man gefangen und unbeweglich. Die Attraktivität von Träumen und anderen Formen der Imagination liegt in einer Distanzierung vom Gegebenen, die ein nicht restlos klärbares Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit hinterlässt. Diese Unbestimmtheit bringt Spielräume gegenüber einer Realität, die von vielen oft als Zumutung erfahren werden muss. Dieses Heft geht davon aus, dass die Welt voller unrealistischer Prämissen, Träume, Wünsche und Methoden ist, die dennoch zu realen Phänomenen führen. Es bringt Beiträge zusammen, die sich mit den Situationen beschäftigen, in denen Unrealistisches wesentlicher Bestandteil von Realität wird.
[1] Vgl. Rem Koolhaas, Delirious New York. A Retroactive Manifesto for Manhattan. New York 1994, S. 237-241.
[2] Vgl. Mark Fisher, Capitalist Realism: Is There No Alternative? Winchester 2009.
[3] Maren Lehmann, Negative Distanz. In: Dies., Theorie in Skizzen. Berlin 2011, S. 173-207, hier: 174.
Mit Beiträgen von Irma Blumstock, Kea Bolenz, Aleksandr Delev, Gritli Faulhaber, Lucia Graf, Ida Michel, Linn Penelope Micklitz, Max Popov, Vitiko Schell, Hannah Schmedes, Timo Schröder, Pierre Schwarzer und Anastasia Svirski.
Leipzig, 2020.